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Reiner Schlotthauer |
Wer im Osten Europas in ein Dorf kommt, in dem seinerzeit ein gottloses Regime die Kirche abreißen ließ, kann wohl jene Menschen verstehen, zumal Christen, die heute ausgerechnet deswegen diesen Ort nicht mehr so richtig als ihre Heimat ansehen können. Es fühlt sich an, als ob das Herz herausgerissen wäre. Mehr als nur ein vorübergehendes Empfinden, eine melancholische Anwandlung. Und vielleicht eint sie dieses, sagen wir »Gefühl«, mit den Menschen kürzlich in Paris, die erleben mussten, wie vor ihren Augen die, nein, »ihre« Kathedrale niederbrannte. Und damit das zentrale, über Jahrhunderte pulsierende Organ ihres Lebens und Glaubens.
Selbst Millionen an den Bildschirmen erschauderten. Viel mehr als sonst, wenn passiert, was schnell als Katastrophe etikettiert wird. Menschen, die angeblich hart gesotten sind, zeigten nun ihre weiche, echte Seite, sprachen von einer inneren Unruhe, die sie die Nacht kaum schlafen ließ. Über sich selbst waren sie überrascht, über ihre Regung, ihr pochendes Herz, welches die Entfernung zum Ort des Geschehens, Paris, auf Zentimeter schrumpfen und sie nahe an ihre Zeitgenossen dort, Mitmenschen, heranrücken ließ. Als ob sie am Ende sogar mitten unter ihnen stünden, Schulter an Schulter – und wie diese zu tun begannen, was sie schon lange nicht mehr, geschweige denn öffentlich, taten: singen, beten, knien, weinen. [...]
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