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archivierte Ausgabe 29/2022
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Reise wohin? |
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Reiner Schlotthauer |
»Ich versteh die Welt nicht mehr!« Eigentlich glaubte man diese Frage in die Mottenkiste der Rhetorik verbannt. Denn mit all den Möglichkeiten, die der Mensch zuletzt für sich selbst geschaffen hatte, schien er nun sogar Wunder wirken zu können. Hatte er also doch sein Ziel erreicht, obwohl er vor Urzeiten aus dem Paradies vertrieben worden war? War er nun endlich in der Lage, alles zu verstehen, gottgleich geworden, ja kurz davor, im Triumphzug in den Garten Eden zurückzukehren, um seinerseits Gott zu verbannen?
So schien es zumindest schon. Doch dieser Plan ist nicht aufgegangen, wie der eines Möchtegern-Stars im Internet, dessen Welt sich als bloßer Schein erweist, wenn ihm der Strom abgedreht wird. Dies könnte uns allen bald passieren. Was leuchtet dann noch in uns und aus uns heraus? Ein Erdrutsch droht: Ausgelöst von all jenen, die die Welt ganz zu durchschauen glaubten. Doch dabei war dies nur die eigene kleine, gar nicht einmal intellektuell, geschweige denn im Herzen verstandene Welt – sondern die innerhalb eines sehr eingeschränkten Horizonts. Mit Selbstverwirklichung, Egoismus, und Optimierung als Lebensgefühl.
Die Überaschung ist nun groß, da dieses Weltbild zu bröckeln beginnt. Wahrscheinlich resultiert manche Depression aus der hochgezüchteten Anspruchshaltung, die jetzt in sich zusammenfällt. Stoff für Psychiater, aber auch Gefahr für die Demokratie. Zum Sinnbild verschmolzen jüngst zwei Bilder, die von Medien unverfroren nebeneinander gestellt wurden: Das eine zeigte weinende Helfer, die Tote aus dem Schutt der Ukraine bargen, das andere nörgelnde deutsche Urlauber am Flughafen. Weil die Welt nicht mehr reibungslos funktioniert.
Wohin also wird die Reise in diesem Land noch gehen? Der verstorbene Politiker Guido Westerwelle hatte einst von »Dekadenz« gesprochen und wurde dafür gerüffelt. Vielleicht lässt es sich ja auch anders ausdrücken: »Verwöhnte Verantwortungslosigkeit«. Nein, alle Viren sind leider immer noch nicht besiegt, Unvorstellbares könnte drohen. Das Projekt des Weltfriedens muss auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Und das Klima? Der Hunger nimmt wieder zu, ausgerechnet bei den ohnehin Armen. Wie viele Bedürftige kommen in unserem eigenen Land dazu? Die Globalisierung hat ihr Versprechen nicht erfüllt, und die digitalen Kommunikationsmittel, so faszinierend sie sind, verbessern nicht unsere Beziehungen. [...]
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