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Reiner Schlotthauer
Reiner Schlotthauer
Besonders reizvoll ist, die Dinge von zwei Seiten beurteilen zu können; auch einmal ein, zwei Schritte weiterzugehen und nachzusehen, wie es dahinter weitergeht oder -gehen könnte. Ohne Lust aufs Schwarmverhalten derer, die ohnehin immer nur in die Richtung scheinbar der Mehrheit laufen.

So wird selten hinterfragt, ob dieses Land tatsächlich komplett am Boden liegt. »Generalabrechnung mit dem Standort Deutschland« ist zum geflügelten Wort geworden. Gewiss ist viel falsch gemacht und zu spät angegangen worden. Nur wer alles gleich »kaputt redet«, wie kürzlich die Caritaspräsidentin kritisierte, übersieht: dass nicht alles auf die Wirtschaft abschiebbar ist, sondern vielleicht auch auf den Seelenzustand der Bevölkerung. Wie steht es generell um deren Fähigkeit zu Widerstandskraft, Verantwortung, Anstand, Gemeinschaft, vielleicht sogar Nächstenliebe – die halt eben auch Basis für ein Staatswesen sind? Und fürs Gemeinwohl.

Wie hatte ein ehemaliger Ministerpräsident gemeint: Die eigentliche Armut hierzulande sei die nachlassende Beziehungsfähigkeit der Menschen. Wer will widersprechen? Was daraus geworden ist, kann jeder im engsten Kreis und auf der Straße studieren. Und einen weiteren, sehr aktuellen Trend beobachten derzeit Soziologen: die zunehmende Verlusterfahrung.

Die entsteht, wenn immer mehr verloren zu gehen droht, was einst selbstverständlich war. Von den eigenen kleinen Verwöhntheiten bis hin zu dem scheinbar supersicheren Zukunftsversprechen: dem immer nur wachsenden Wohlstand. Eine These: Dass sich viele schwer tun, damit umzugehen, liegt auch daran, dass sie verlernt haben, mit der größten Verlusterfahrung, eigentlich schon Tausende von Jahren bekannt, umzugehen: dem eigenen Sterben und dem Tod. Bloß Geld oder Verdrängung schenken keine Hoffnung. Und keine echte Zuversicht.

Und wie soll auf die modische Rede von der Work-Life-Balance reagiert werden? Das ein oder andere ist sogar einzusehen. Aber warum scheint Arbeit so verpönt? Sie ist doch Teil, nicht Gegenteil des Lebens. Und letztlich sogar eine Bedingung für das Funktionieren des Sozialstaats. Jeder hat längst die Lektion gelernt, dass die Wirtschaft für den Menschen da ist und nicht umgekehrt. Der Mensch ist das Subjekt. [...]
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