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Am Vorabend

Reiner Schlotthauer
Reiner Schlotthauer
Etwas liegt in der Luft. Vielleicht, weil Licht und Atmospäre des Spätsommers vieles deutlicher erscheinen, es vom Hintergrund abheben lassen. Nennt man es Kontrast? Davon gibt es immer mehr auf der Welt. So wie das Gespür zunimmt, geistige Konturen dafür schärfer werden, dass sich etwas ändern wird. Dieses Mal mehr als in den Jahrzehnten davor. So, dass manches, wenn die Tage wieder länger werden, nie mehr sein wird wie zuvor, geschweige denn selbstverständlich. Selten waren Angespanntheit und Ungewissheit so groß: Wie an einem Vorabend, dessen naher Morgen noch fern scheint.

Heute, da diese Zeilen geschrieben werden, müssten sich die restlichen Katholiken an einen bestimmten Apostel erinnern, eigentlich. Wer ist das noch mal, hört man inzwischen die Mehrheit fragen. Der ist es, mit dessen Gedenktag Landwirte und gar Meteorologen seit Jahrhunderten die Wetterwende in Verbindung bringen. Die Sonne schert sich aber nicht mehr darum, brütet weiter. Was wird daher noch kommen? Wieder diese Frage. Wenn der Bauer übers Stoppelfeld geht, hinterlässt er eine Staubwolke. Die Blumen auf dem Friedhof lassen ihre Köpfe hängen, trostlos. Was blüht uns also morgen, fragen sich die Verbliebenen. Wie lieben und glauben wir dann?

Doch an diesem Tag scheint sich nicht nur das Wetter zu wenden. Auch das Gemüt sieht Wolken. Just heute feiert die Ukraine ihre Unabhängigkeit, unter strahlendem Himmel, wie kann man sich doch täuschen. Was wird nächstes Jahr um die Zeit sein? Und die verwöhnten Deutschen: Werden sie sich weiter um Energie und Wohlstand sorgen müssen, deretwegen Kanzler und Minister soeben aus Kanada heimgekehrt sind? Wie wird sich das Volk verhalten, das bis zuletzt geglaubt hat, die fetten Jahre ließen sich endlos verlängern? Welch seltsamer Ewigkeitsglaube, der jeden anderen Glauben verdrängt, der einen rechtzeitig Dankbarkeit, Demut, Ehrfurcht, Maß und Verzicht hätte lehren können. Um vorbereitet zu sein auf das, was jetzt kommt: Was wieder viel kleiner sein wird, als man es gewöhnt war. Und man daher leicht übersieht. Aber halt spannender ist, wie früher, als wir noch im Advent fasteten. Folgt aber darauf nicht ein Abend, der im Dunkel der Nacht wieder als heilig bezeichnet werden kann? Geschichte und Kirchengeschichte geben Anlass zur Hoffnung, dass über Nacht Großartiges entstehen kann. [...]
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