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Titelthema
Zweite Lebenshälfte

Nach der Blüte kommt die Reife

Nach der Blüte kommt die Reife
Manchmal ist statt Treppensteigen auch ein mutiger Sprung im Leben gefordert, der entscheidend zur Entwicklung beiträgt und vorwärts bringt. Dabei kann bereits das Loslassen eingeübt werden.
Foto: Mystockimages/iStock
Das Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse (1877–1962) dürfte vielen bekannt sein, beschreibt es doch eindrucksvoll den menschlichen Werdegang, dem in jedem Alter ein »Zauber«, aber auch eine Herausforderung innewohnt. Unsere Autorin, die Theologin und Psychologin Beate Maria Weingardt, möchte mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Stufen von der Blüte des Lebens zur Reife nachgehen und vor allem ihnen im Innern nachspüren. Ein Gang, der sich lohnt!

»Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe
Blüht jede Weisheit auch und jede
Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig
dauern.«


Mit diesen schlichten Zeilen beginnt eines der schönsten, aber auch herausforderndsten Gedichte von Hermann Hesse. Als er es im Jahr 1941 schrieb, war er 64 Jahre alt und hatte schon viele Stufen in seinem Leben bestiegen und hinter sich gelassen. Hesse war ein Dichter, der zeitlebens nicht nur das Zeitgeschehen, sondern auch den Menschen, nicht zuletzt sich selbst und den eigenen Lebensweg äußerst intensiv und kritisch reflektierte.

»Wie jede Blüte welkt« – klar und unumwunden wird hier eine Grundtatsache allen Lebens angesprochen, die auch für uns Menschen gilt. Ja, wer mit offenen Augen die Natur wahrnimmt, der weiß: Alles Blühen ist ein rasch vorübergehender Zustand. Dass der Mensch im Lauf der Zeit eine Vielfalt an Pflanzen gezüchtet hat, bei denen die Blüte ungewöhnlich lange anhält – man denke nur an Orchideen –, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Blüte ein recht kurzes Stadium im Leben der Pflanze ist, das einzig und allein der Befruchtung dient. Viel länger dauert, im Vergleich dazu, das Reifen der Frucht, welche die Samen enthält, die das Erbgut des Lebens in sich tragen.

Lange allerdings dachten die Menschen, Zweck des Blühens wäre es, des Menschen Auge zu erfreuen. Die Empörung war deshalb groß, als der Privatgelehrte Christian Konrad Sprengel im Jahr 1793 nach intensiven Forschungen in seinem Buch »Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen« behauptete, dass der einzige Zweck der Farben- und Formenpracht aller Blüten darin bestünde, Insekten und Vögel anzulocken, um durch sie bestäubt zu werden und Früchte bilden zu können. Er fand kein Gehör; selbst der Hobbynaturwissenschaftler Goethe in Weimar protestierte, weil ihm die nüchterne Zweckorientierung Sprengels gegen sein poetisches Gemüt ging! [...]
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