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archivierte Ausgabe 46/2022
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Titelthema |
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Mitte des Lebens |
Lebensmitte als spirituelle Aufgabe |
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In der Mitte des Lebens kommen auch Zweifel am Glauben auf. Die Kirche wird zum leeren Raum, das Religiöse schmeckt nicht mehr. Das hat bereits der Mystiker Johannes Tauler beschrieben: Die Erfahrung Gottes hat immer auch mit der Selbsterfahrung zu tun. Wenn ich mich selbst nicht spüre, kann ich auch Gott nicht spüren. Foto: Frank/Adobe Stock |
Soll das alles gewesen sein? Warum hetze ich mich ab, ohne noch Zeit für mich zu finden? In der Lebensmitte hinterfragen viele Menschen ihre bisherigen Lebensmuster und erleben eine psychische Krise. Diese ist bei vielen auch spiritueller Natur. Das Religiöse schmeckt nicht mehr, die Lust am gemeinsamen Gottesdienst geht verloren. Das mag verunsichern, birgt aber auch eine große Chance. »Das Zerbrechen alter Gewissheiten ist die Bedingung, dass wir aufbrechen zu unserer eigentlichen Wahrheit«, sagt der Benediktinerpater Anselm Grün. Er sieht die Lebensmitte als eine wichtige Aufforderung, sich der eigenen Wahrheit zu stellen und durch alle Zweifel hindurch danach zu suchen, was einen wirklich trägt.
In der Lebensmitte geraten viele Menschen nicht nur in eine psychische, sondern auch in eine spirituelle Krise. Die psychische Krise drückt sich in dem Gefühl aus: Soll das alles gewesen sein? Warum hetze ich mich ab, ohne noch Zeit für mich zu finden? Warum, wieso, wozu, für was, für wen? Was für einen Sinn hat mein Leben? Diese Fragen tauchen in der Lebensmitte auf und verunsichern uns.
Die spirituelle Krise drückt sich in dem Gefühl aus, dass einem der Gottesdienst nichts mehr sagt, dass Menschen an allem zweifeln, was sie bisher getragen haben. Sie spüren nichts mehr von der früheren Begeisterung bei Gottesdiensten. Das Religiöse schmeckt ihnen nicht mehr. Frauen und Männer haben Seelsorger und Seelsorgerinnen auch von ihrer schwachen Seite kennengelernt. Sie sind kein Vorbild mehr. Ihnen Dinge zuzutrauen wird schwieriger. Die Kirche enttäuscht. So verlieren sie die Lust auf einen spirituellen Weg, die Lust am gemeinsamen Gottesdienst.
Diese Krise ist nicht neu. Schon im 14. Jahrhundert hat der deutsche Mystiker Johannes Tauler darüber geschrieben. Er spricht von einer großen Bedrängnis, in die Menschen zwischen 40 und 50 Jahren geraten. Viele neigen dann dazu, alles Religiöse über Bord zu werfen. Doch Tauler erklärt mit dem Gleichnis von der verlorenen Drachme (Lk 15,8–10), dass diese Krise das Werk Gottes selber ist.
Wenn sich der Mensch in der Lebensmitte eingerichtet hat, wenn er alles in seinem Leben erreicht hat, dann macht es Gott wie eine Frau, die etwas sucht. Sie stellt die Stühle auf den Tisch und rückt die Schränke zur Seite, um die verlorene Drachme zu suchen. Für Tauler ist die verlorene Drachme das wahre Selbst. Gott selbst bringt den Menschen ins Gedränge, um ihn in seine Tiefe, in den eigenen Seelengrund zu führen. Dort wird er spüren, wer er selbst ist.
Die Krise verunsichert viele. Daher möchten viele sie lieber verdrängen. Tauler nennt drei Wege des Verdrängens. Der erste Weg: Ich möchte die anderen ändern, die Familie, die Firma, die Kirche, die Gesellschaft – in der Hoffnung, dass dann das Leben für mich stimmt. Der zweite Weg: Ich ändere ständig meine Lebensweise, meine Ernährung, meine Bewegung, meine psychologischen Methoden. Aber ich bleibe immer der Gleiche. Denn das, was ich bei mir verändern will, das lehne ich ab. Und was ich ablehne, das bleibt an mir hängen. Der dritte Weg ist das vorschriftsmäßige Verhalten. Ich tue nach außen alles richtig. Aber in mir wandelt sich nichts. Ich werde stur und erstarre innerlich. [...]
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