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archivierte Ausgabe 51/2022
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Titelthema |
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Weihnachten feiern |
Weihnachten feiern in schweren Zeiten |
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Menschen in der Ukraine entzünden Kerzen für ihre Verstorbenen. Das Licht ist auch Ausdruck der Hoffnung, dass eines Tages Ungerechtigkeiten, Bedrängnis und Angst ein Ende haben – genau dafür steht Weihnachten. Foto: picture-alliance/Photoshot |
Alle Jahre wieder scheidet Weihnachten die Gemüter. Die Popularität des Festes ist nahezu ungebrochen. Das Erscheinungsbild unserer Innenstädte und Vorgärten wandelt sich wieder in einen weihnachtlichen Festraum. Die meisten Kommunen wollen auf die besondere Stimmung dieser Zeit nun doch nicht verzichten und entscheiden sich für Christbaum und Weihnachtsbeleuchtung, wenn auch ein wenig reduzierter und mit energiesparender LED-Technik. Auch zuhause macht man es sich gemütlich, bei Glühwein, Plätzchen und Adventskranz. Nach über zweieinhalb Jahren der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie ist der Wunsch nach einer unbeschwerten Zeit verständlich, gerade auch im Angesicht der vielen Konflikte und fürchterlichen Kriege in der Welt. Doch ist es nicht zynisch, sich auf Weihnachten zu freuen, während in der Ukraine unschuldige Menschen aufgrund des Wahnsinns eines einzelnen Machthabers und seiner Helfersleute sterben müssen? Haben wir nicht längst die vielen anderen Kriege verdrängt? Täuscht die Festfreude nicht über die bedrängenden Herausforderungen unserer Zeit hinweg: den Klimawandel, die knapper werdenden Ressourcen, den Verlust an Biodiversität und seine Folgen für alle Lebewesen auf diesem Planeten? Frei nach Karl Marx: Weihnachten als »Opium des Volkes«?
Die Kritik an Weihnachten ist nahezu genauso alt wie das Fest, zumindest in seiner bürgerlichen Gestalt seit dem 19. Jahrhundert. Es war das städtische Bürgertum, das ab ca. 1800 zur kulturbildenden Gesellschaftsschicht heranreifte und die heutige Art und Weise, Weihnachten zu feiern, maßgeblich prägen sollte: mit Baum, Bescherung und Festessen – mit einer häuslichen Feier am Vorabend, zu der gesungen und musiziert, gespielt und gut gegessen wurde. Natürlich auch noch mit einem Kirchgang am Heiligabend. In jener Zeit erfuhren viele mittelalterliche und neuzeitliche Bräuche und Rituale eine Neucodierung. Lieder wie »Süßer die Glocken nie klingen« oder »Leise rieselt der Schnee« künden durchaus noch von der nahen Ankunft des Christkindes, vom Chor der Engel in seliger Nacht und vom heiligen Klang der Kirchenglocken. Christologische Aussagen finden sich aber kaum noch; von Sünde und Schuld der Menschen oder von Jesus als Retter der Welt ist nicht mehr die Rede. Was bleibt sind allgemein-menschliche Sehnsuchtsmotive wie der Zauber des Schneefalls bei windstiller Nacht, zusammen mit einer harmonischen Familienstille in der anheimelnden Atmosphäre einer liebevoll geschmückten guten Stube. Nicht von ungefähr schrieb Erich Kästner schon vor fast 100 Jahren eine bittere Satire auf die Sentimentalität und Gefühlsduselei einer bürgerlichen Weihnachtsfeier. In seinem »Weihnachtslied chemisch gereinigt« klingt es unromantisch und illusionslos: »Morgen, Kinder, wird’s nichts geben! Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.« Wie kaum ein anderes Gedicht entlarvt der Dichter die Scheinheiligkeit einer konsumbesessenen Gesellschaft, die nur zur Beruhigung des schlechten Gewissens eine milde Gabe für karitative Zwecke übrighätte.
Doch selbst Kästner hegt mit seiner »linken Melancholie«, wie es Walter Benjamin einmal ausdrückte, einen Rest von Sehndient einer moralischen Haltung und vielleicht auch dem Aufruf zur Tat, dass eines Tages doch soziale Ungerechtigkeiten wie die Kinderarmut ein Ende haben, dass sich die Reichen und Mächtigen eines Besseren belehren und dass alle Menschen von Armut befreit ein friedvolles und schönes Fest feiern können. Genau deshalb muss es weiterhin Weihnachten geben. [...]
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