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archivierte Ausgabe 29/2023
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PSALMEN FÜR HEUTE (2) Psalm 88 – der dunkelste |
»Meine Seele ist gesättigt mit Leid« |
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Wie der biblische Beter von damals kann auch der gläubige Beter von heute festhalten an Gott, selbst in der größten Gottesfinsternis, wo kein Verstehen mehr ist. Er hat wenigstens noch eine Sprache für sein Leiden: die Klage. Foto: Ivan Samkov/pexels |
Es gibt Menschen, die lesen Bücher oder schauen Filme nur, wenn sie auch ein Happy End haben. Psalm 88, der Psalm, um den es im Folgenden gehen soll, hat das nicht. Er stellt uns – im Gegenteil – furchtbares, nicht enden wollendes Leid vor Augen und fordert uns somit heraus.
Herr, du Gott meines Heils, zu dir schreie ich am Tag und bei Nacht. Lass mein Gebet zu dir dringen, wende dein Ohr meinem Flehen zu! Denn meine Seele ist gesättigt mit Leid, mein Leben ist dem Totenreich nahe. Schon zähle ich zu denen, die hinabsinken ins Grab, bin wie jemand, dem alle Kraft genommen ist. Ich bin zu den Toten hinweggerafft wie Erschlagene, die im Grabe ruhen; an sie denkst du nicht mehr, denn sie sind deiner Hand entzogen.« (Ps 88,2–6)
Der Psalmbeter beziehungsweise die Beterin betet schreiend Tag und Nacht. Das Leiden nimmt kein Ende, die Kraft lässt nach, es ist wie Sterben. Hier muss man wissen, dass unser heutiger Begriff von Tod und Sterben sehr naturwissenschaftlich geprägt ist. Wir meinen einen klaren Zeitpunkt für den Eintritt des Todes bestimmen zu können, eine Grenzmarke zwischen Leben und Tod.
Der biblische Mensch denkt da ganzheitlicher und umfassender. Ein Leben, das diesen Namen nicht mehr verdient, ist wie bereits gestorben. Deshalb kann gebetet werden: »Ich bin zu den Toten hinweggerafft.« Die Grenzmarke zwischen Tod und Leben ist fließend. »Du hast mich ins tiefste Grab gebracht, tief hinab in finstere Nacht. Schwer lastet dein Grimm auf mir, all deine Wogen stürzen über mir zusammen. Die Freunde hast du mir entfremdet, mich ihrem Abscheu ausgesetzt; ich bin gefangen und kann nicht heraus. Mein Auge wird trübe vor Elend.«
Woher all dieses Leid? Für den betenden Menschen ist klar, dass da Gott selbst am Werk ist. Er ist es, der ihn ins Dunkel der Nacht geschickt hat, der ihm zürnt und der alles über ihm zusammenstürzen ließ wie in den Wogen der Sintflut. Warum, weiß er nicht. Der Betende begegnet einem Gott, der ihn leiden lässt, der ihm die Freunde entfremdet und ihn so in den sozialen Tod schickt; eine Situation, aus der er aus eigener Kraft nicht mehr herauskommt.
Es ist schier unerträglich, wie unser Betender von Gott spricht. Ist Gott nicht der Inbegriff der Liebe, der seinen Menschen immer nur Gutes will? Unser Beter erfährt ihn anders. Und viele Menschen, die schlimmes Leid erfahren müssen, kennen die Lebensumstände sehr gut, von denen in unserem Psalm gesprochen wird: Wenn es jeden Tag nur noch schlimmer wird, wenn sich alles gegen einen verschworen hat, wenn die Krankheit kein Ende nimmt, wenn einem die Sonne nicht mehr scheint und nur noch Dunkel ist um einen her. Wo ist da Gott? [...]
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