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archivierte Ausgabe 7/2022
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GEBETSSCHULE (4): DER WELT IN URALTEN GEBETSTEXTEN BEGEGNEN |
Ein Vokabular sammeln, das wir vielleicht noch brauchen werden |
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Wir dürfen eigene Worte vor Gott finden, aber auch auf den Schatz in Bibel und Tradition zurückgreifen. Darin sind alle menschlichen Befindlichkeiten von Dankbarkeit und Stauen über Zweifeln und Hadern bis hin zu Zorn und Anklage beschrieben und ausgedrückt.
Foto: KNA |
Wenn man über den Taschachgletscher in den Ötztaler Alpen zur Wildspitze aufsteigt, kommt man an einer Felswand mit einer Gedenktafel vorbei. Auf ihr bezeugt eine Seilschaft, die dort vor vielen Jahren in einer Eisrinne mehrere hundert Meter tief abstürzte und mit dem Leben davonkam, ihre Dankbarkeit. Ganz oben steht ein Satz aus Psalm 118: »Der Herr hat mich hart gezüchtigt, doch er hat mich nicht dem Tod übergeben. « Ich war schon seit über 30 Jahren nicht mehr an dieser Stelle – und doch denke ich jedes Mal an die Gedenktafel, wenn ich Psalm 118 bete. Genau das ist der immense Vorteil von fest formulierten, vertrauten Gebeten: Wenn man in eine ähnliche Situation kommt, wie sie im Gebet beschrieben wird, kann man den Wortlaut zitieren. Und jedes Mal, wenn man das Gebet später wieder betet, erinnert man sich an das einst Erlebte. Das Gebet wird so zu einem Schlüssel, auch seltene und einschneidende Erfahrungen im Leben deuten zu können.
Zu Recht werden Sie sagen: Dazu muss es sich aber nicht um ein Gebet handeln. Es könnte auch ein weltliches Gedicht oder Lied sein, das viele gut kennen und auswendig können. Vollkommen richtig. In Italien findet man zum Beispiel viele Gedenktafeln mit Zitaten des großen Dichters Dante Alighieri. In Deutschland gibt es hier und da ein Goethe-Zitat auf einer Tafel. Entscheidend ist also zunächst nicht, dass es sich um ein Gebet handelt, sondern dass es ein Text ist, der uns und vielen anderen Menschen in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir brauchen nicht lange überlegen – schon sind uns die Worte auf den Lippen. Und intuitiv sind wir überzeugt: Genau diese Worte treffen, was wir gerade erlebt haben. [...]
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